Montag, 10. November 2025

Fallstudie Teil 2: Vom Regen in die Traufe

Nachverhandlung

Wir standen vor der Frage, welche Ansprüche die Verkäuferin gegen uns geltend machen könnte. Sie hatte Bürgschaften über rund neun Mio. € gewährt und weitere Zahlungen an Vermieter und Mitarbeitende garantiert. Unser Anwalt empfahl, nach Anfechtungsgründen im Vertrag zu suchen.

Bei der Durchsicht der E-Mails der früheren Geschäftsleitung entdeckten wir, dass die Backups professionell von allen Servern gelöscht worden waren. Glücklicherweise fanden wir Kopien in der Finanzabteilung. Diese zeigten, dass die Verkäuferin das tatsächliche Ausmaß der Verluste verschwiegen hatte.

Wir erklärten den Rücktritt vom Kaufvertrag. Die Verkäuferin geriet nun selbst unter Druck, da ihre geplante Fusion mit einem Wettbewerber auf der Kippe stand. Nach intensiven Verhandlungen erhielten wir zusätzliche Liquiditätshilfen und Bürgschaften zur Deckung offener Verbindlichkeiten.

Der Wendepunkt

Wir stellten einen erfahrenen Automobilmanager ein, Harald Ender. Er überzeugte mich besonders, als er auf die Frage nach seiner Kündigungsfrist für den Interimseinsatz schlicht antwortete: „Einen Tag.“ Während viele Kandidaten trotz Erfolgsbeteiligung auf eine Absicherung mit langen Kündigungsfristen bestehen, vertraute er ganz auf seine eigenen Fähigkeiten.

Harald Ender ging die Herausforderungen direkt an und beendete den Streik in Emden. Betroffenen Mitarbeitern half er persönlich bei der Suche nach neuen Arbeitsplätzen. Er sprach mit verschiedenen Arbeitgebern in der Region und sicherte so die Anstellung der meisten Mitarbeiter – teilweise mit kleinen Zuschüssen, was uns im Vergleich zu Abfindungszahlungen erheblich Geld sparte.

Außerdem stärkte er den Zusammenhalt der Belegschaft in Lüdenscheid durch symbolische Aktionen, wie den Bau eines kleinen Museums, das alte Firmenplaketten ausstellte. Diese Maßnahmen steigerten das Engagement und die Motivation der Belegschaft.

Parallel ging er die Qualitätsprobleme an und führte sein eigenes „BAVARIA Operating System“ ein. Anfangs kontrollierten Mitarbeiter der Kunden auf unsere Kosten 100 % der gefertigten Flaschenhalter. Doch dank konsequenter Verbesserungen sank die Fehlerquote auf unter 500 ppm – ein sehr guter Wert in der Branche. Später beförderten wir Ender zum Chief Operating Officer unserer Holding.

Der Ausblick

Im Mittelpunkt seiner Maßnahmen stand die Erhöhung der Bruttomarge. Wir nahmen nur noch Neuaufträge mit einer Bruttomarge von mindestens 30 % an. Ohne diese Marge wäre die Gewinnschwelle („Break-even“) nicht erreichbar gewesen. Aufträge mit zu geringem Deckungsbeitrag blockierten wertvolle Kapazitäten und trugen nur teilweise zur Deckung der Fixkosten bei.

Durch diese Maßnahmen gingen die Verluste bei Paulmann & Crone drastisch zurück. Wo möglich, erhöhten wir die Preise; wo das nicht ging, stellten wir die Projekte ein – selbst wenn dies bedeutete, dass der Umsatz von ursprünglich 100 Mio. € um ein Drittel schrumpfte.

Ohne zusätzliche Investitionen war es jedoch unmöglich, die Sanierung erfolgreich abzuschließen. Angesichts dieser Herausforderung entschieden wir uns, das Unternehmen an einen lokalen Unternehmer zu einem symbolischen Kaufpreis zu übergeben. Dank seiner guten Beziehungen zur Landesregierung konnte er eine Bürgschaft in Höhe von 5 Mio. € für die geplanten Investitionen sichern.

Eine teure Lektion

Trotz des Verkaufs wurden wir später mit 10 Mio. € in Haftung genommen. Wir hatten übersehen, dass unsere Garantie auch nach der Übergabe bestand – weil keine Insolvenz angemeldet wurde. Das kam uns teuer zu stehen.

Der neue Eigentümer entdeckte ein Schreiben des Wirtschaftsprüfers, das auf fehlende Rückstellungen für erwartete Verluste hinwies – konkret wegen der losen Flaschenhalter. Obwohl es diesen Hinweis gab, hatte der Prüfer den Abschluss ohne Einschränkung testiert. Die Verkäuferin musste zusätzliches Kapital einschießen – und verlangte diese Mittel anschließend von uns zurück.

Trotz aller Bemühungen konnten wir das Schiedsgericht nicht von der unredlichen Vorgehensweise der Verkäuferin überzeugen. Es bestand auf Erfüllung unserer vertraglichen Pflichten. Auch in den nachfolgenden Klagen vor ordentlichen Gerichten unterlagen wir. Schließlich verklagten wir sogar unseren eigenen Anwalt – leider ebenfalls erfolglos.

Bisher haben wir gesehen, wie unterschiedlich Projekt- und Serienfertiger ticken – von der Kalkulation bis zum Cash-Zyklus. Doch jenseits dieser Unterschiede braucht jedes Werk dasselbe Grundgerüst: klare Kennzahlen, einen festen Meeting-Takt und eine Fehlerkultur, die Probleme schonungslos sichtbar macht. Genau dafür haben wir unser BAVARIA Operating System entwickelt. Das nächste Kapitel zeigt, wie dieses System in drei einfachen Bausteinen funktioniert und warum es zum Herzschlag aller zukünftigen Turnarounds geworden ist.

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